Ich kann ihn beruhigen, dass seine Kinder nicht in Gefahr sind
Gelnhäuser Tageblatt vom 26.02.2011
26.02.2011 02:00 Uhr - BÜDINGEN/ASCENSIóN (JMK/RED) SEIT DREI WOCHEN ARBEITET DR UTE GLOCK AUS BÜDINGEN IN ASCENSIóN IN DER BOLIVIANISCHEN PROVINZ GUARAYOS GEMEINSAM MIT DEN SCHWESTERN DES FRANZISKANERORDENS WILL SIE DIE SPENDENGELDER, DIE SIE UND IHR TEAM BEIM „PROJEKT GUARAYOS“ GESAMMELT HABEN, IHREM ZWECK ZUFÜHREN (DER KREIS-ANZEIGER BERICHTETE) FÜR DEN KREIS-ANZEIGER BERICHTET UTE GLOCK IN IHREM REISETAGEBUCH HEUTE UNTER ANDEREM VON DER ERÖFFNUNG EINES FRÜHFÖRDERZENTRUMS.
Dr. Ute Glock nimmt an der Einweihung eines Frühförderzentrums teil - Spontane Hilfe
„Längst haben meine Tage ihren stetigen Rhythmus gefunden. Unsere kompetente und tatkräftige Pastora findet ein schwer unterernährtes Kind. Felipe ist elf Monate alt und wiegt 6200 Gramm. Sein Köpfchen wackelt auf einem steckendünnen Hals, immer wieder sucht er Halt in den Armen seiner Mutter. Sie ist im siebten Monat schwanger und wirkt völlig überfordert. Wir befürchten, dass sie den Jungen mit Absicht sterben lassen will.
Mit vereinten Kräften bringen wir Mutter und Kind in die Klinik, wo sie der diensthabende Arzt unwirsch und genervt abfertigt. Schließlich nimmt er die beiden doch auf. Damit die Mutter nicht wegen Hunger einfach verschwindet, kaufe ich ihr auf dem Markt eine warme Mahlzeit, die aus Nudeln und ein paar Fleischfasern besteht. Das Essen kostet neun Bolivianos, das sind umgerechnet 90 Cent.
Ich übernehme auch die Behandlungskosten für einen neun Jahre alten Jungen mit hohem Fieber und starkem Nasenbluten. Es besteht der Verdacht auf Denguefieber. Eine Krankenversicherung gibt es nicht, den Eltern fehlt das Geld für den Arzt, für Medikamente und Laboruntersuchungen.
Ausnahmsweise scheint die Sonne, es ist drückend heiß. Ich muss Schulutensilien für ein paar Kinder kaufen, denen ohne Hilfe die Schule versagt bliebe. Unzählige Motos knattern durch den Ort, das Überqueren der Straße ist lebensgefährlich. Bürgersteige gibt es keine, ich suche mir den Weg durch Unrat, Morast, Steine und Wasserpfützen.
Dann endlich ein freudiges Ereignis. Die Einweihung unseres neuen Frühförderzentrums steht bevor. Es ist eine schöne Feier, bei der die Eltern und ihre zum Teil schwerstbehinderten Kinder vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben im Mittelpunkt stehen. Die wenigen Ansprachen sind kurz und warmherzig, es geht um die Erfüllung lang gehegter Träume. Der Chef des Sozialwesens der Stadt Ascensión ist aufrichtig überrascht, was Privatinitiative aus Europa bewirken kann. Er spart nicht an anerkennenden Worten. Im Frühförderzentrum sind die Therapiekinder eingeladen zur Begrüßung und Befundaufnahme. Das Spektrum der Behinderungen ist vielfältig und erschütternd, ich sehe Bilder, die aus unserem Alltag längst verschwunden sind. Diagnostik und Therapiemöglichkeiten fehlen, es bleibt ihnen nur liebevolle individuelle Zuwendung mit ein paar improvisierten Materialien. Freude, vergnügtes Lachen und dankbare Mütter sind unser Lohn.
Die Schwestern ziehen sich am Wochenende in die Anbetung Mariens, ins Gebet und in Meditation zurück, man nennt das ‚Retiro‘. Die kleine Klosterkapelle ist mit Blumen geschmückt und von Kerzen schemenhaft beleuchtet, außer einem anhaltenden Gemurmel höre ich an jenem Samstagabend nichts.
Am Frühstückstisch herrscht tiefes Schweigen. Kaum Blickkontakt. Aus dem CD-Player erklingt ruhige Panflötenmusik. Die Nonnen scheinen lautlos durch den Raum zu schweben. Schwester Verena ist erkältet und hustet. Kein Geschirrgeklapper, kein Gescharre der Stühle auf dem harten Fliesenboden.
Viel zu schnell muss ich zurück in das Getöse der Welt. Für halb neun ist eine Versammlung mit den Vetretern der Ortsteile anberaumt. Bis sie beginnt, ist es nach halb zehn. Der Erfolg ist dennoch gewaltig: 58 Teilnehmer haben sich eingefunden, um mit uns das Problem der Unterernährung in Ascensión zu erörtern. Es kommen hauptsächlich Männer. Wie Geschosse feuern sie ihre Fragen ab, und wir spüren die Brisanz des Themas.
Genardo ist ein alter zahnloser Indio mit einem strahlenden, warmherzigen Lächeln. Er ist in Sorge um seine beiden kranken Enkelkinder und bittet mich um einen Besuch. Ich kann jetzt nicht kneifen, und so fahre ich per Mototaxi in den weit abgelegenen Ortsteil, in dem er wohnt. Hier im Dschungel lebt er in ärmlichen Verhältnissen ohne Strom und Wasser. Ich kann ihn schließlich beruhigen und versichern, dass seine Kinder nicht in Gefahr sind.“
Dr. Ute Glock